19. KAPITEL
Als Ami am nächsten Morgen im Büro ankam, fand sie eine Nachricht von George French vor. Darin bat er sie, so schnell wie möglich in seine Praxis zu kommen. Auf der Fahrt dorthin war Ami nervös, und es linderte ihre Anspannung nicht gerade, als Dr. French sie ausgesprochen grimmig in seinem Wartezimmer begrüßte.
»Mein Freund hat mir eine Kopie von Rices militärischer Laufbahn gefaxt«, sagte der Psychiater, als er Ami in sein Behandlungszimmer führte. »Es wird Ihnen nicht gefallen.«
Kaum hatte Ami sich gesetzt, reichte French ihr ein amtliches Dokument mit der Aufschrift: Bericht über Versetzung oder Entlassung. Während Ami es überflog, gab ihr der Arzt eine kurze Zusammenfassung des Inhalts.
»Carl Rice wurde in San Diego zur Army eingezogen und diente in den Special Forces. Er lernte ein Jahr Vietnamesisch in der Sprachenschule der Army in Fort Meyer und wurde anschließend zu einem Kampfeinsatz nach Vietnam geschickt. Nach der Mission wurde Rice wegen kampfbedingtem Stress in ein Krankenhaus eingewiesen. Nach seiner Entlassung kehrte er in die Vereinigten Staaten zurück und wurde Sprachlehrer in Fort Meyer. Außer diesem einen Aufenthalt in Vietnam finden sich in den Unterlagen keine weiteren Einsätze in Übersee.«
French deutete auf einen Abschnitt des Formulars, in dem der Rang des Soldaten eingetragen war.
»Erinnern Sie sich noch, dass Rice uns gesagt hat, er sei Captain?«
Ami nickte.
»Hier steht, er war Sergeant.« »Ich verstehe nichts von militärischen Rängen. Ist das ein großer Unterschied?«
French lachte. »Das ist ein himmelweiter Unterschied, Ami. Ein Sergant ist im Gegensatz zu einem Captain kein befehlshabender Offizier. Captain ist ein viel höherer Rang.«
French gab Ami ein weiteres Dokument und deutete auf einen Abschnitt, der mit Führung überschrieben war.
»Und jetzt kommt es wirklich faustdick. Rice wurde aus der Army ausgeschlossen, weil er ohne Berechtigung Rangabzeichen eines Captains und die entsprechende Uniform getragen hat.«
Dann reichte French Ami einen psychiatrischen Bericht des Walter Reed General Hospitals, der von einem gewissen Captain Howard Stienbock unterschrieben war.
»Lesen Sie«, forderte der Psychiater sie auf.
Argwöhnisch vertiefte sich Ami in Dr. Stienbocks Bericht.
Hiermit bestätige ich, dass Carl Ellis Rice, 31, etwa vierzehn Jahre im aktiven militärischen Dienst, auf Ersuchen seines Kompaniebefehlshabers am 7. und am 15. März von mir in der NPOP-Klinik im Walter Reed General Hospital untersucht wurde.
1. Sachdienliche Informationen: Bei verschiedenen Gelegenheiten soll Rice Rangabzeichen und Auszeichnungen eines Captains vor der Klasse getragen haben, die er in Vietnamesisch unterrichtete. Rice gab zu Protokoll, dass sich diese Episoden nach einer Zurückweisung durch eine Frau ereigneten, deren Identität er geheim hielt. Er gab nur an, sie sei die Tochter eines Generals der Army der Vereinigten Staaten. Rice erklärte, er habe die Abzeichen getragen, weil er eigentlich Captain sei, obwohl er in den offiziellen Unterlagen des Militärs als Sergeant geführt werde. Als man ihn aufforderte, diese Diskrepanz zu erklären, weigerte sich Rice mit der Begründung, dass ich nicht berechtigt sei, diese Informationen zu erhalten. Aber er bestätigte, dass er häufig in geheimen Missionen unterwegs war. Meinen Aufforderungen, diese Bemerkungen zu erläutern, begegnete Rice entweder mit einem Lächeln oder verbalen Weigerungen, in denen er auf die »nationale Sicherheit« anspielte.
Geistiger Zustand: Rice präsentiert sich als geistig äußerst aufmerksamer Einunddreißigjähriger und weist keinerlei Anzeichen für organische Hirnfehlfunktionen auf. Seine Stimmung war eher niedergedrückt, er sprach langsam und war schwer zu verstehen. Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass sich die Vorfälle, bei denen er angeblich die Rangabzeichen eines Captains trug, in einem Zustand geistiger Unzurechnungsfähigkeit ereigneten. Rice wurde während seiner Dienstzeit in Vietnam ins Krankenhaus eingeliefert, wo er wegen kampfbezogenen Stresses und Depressionen behandelt wurde.
Ergebnisse und Schlussfolgerungen:
A.
Diagnose: Paranoide Persönlichkeitsstörung
mit möglicherweise paranoiden Wahnvorstellungen als ein Ergebnis
von kampfbezogenem Stress, die aufgrund jüngster
persönlicher
Probleme ausgelöst wurden. Ich komme zu dem Schluss, dass
Rice möglicherweise glaubt, er habe im Kampf versagt, und
daraufhin eine Wahnvorstellung entwickelt hat, in der er
als
Captain auf geheime Missionen geschickt wird, um sein
Gefühl
der Unzulänglichkeit zu kompensieren. Ohne weitere Informationen
kann ich jedoch keine endgültige Diagnose stellen. Rice weigert
sich, mir diese zu liefern.
B. Die untersuchte Person ist in der Lage, falsch von richtig zu unterscheiden, und ist weiterhin fähig, das Richtige zu tun
Er ist mental durchaus tauglich, seine Verteidigung aktiv zu verfolgen.
C. Das Subjekt ist für jedes weitere Verfahren schuldfähig, das dem Kommando angemessen erscheint.
»Was bedeutet das?« wollte Ami wissen.
»Ich kann nur spekulieren, aber gehen wir einmal davon aus, dass Rice seine Beziehung zu Vanessa Kohler wieder aufleben lassen wollte, als sie sich in Washington getroffen haben. Nur war sie da nicht mehr so an ihm interessiert wie zu ihren Teenagerzeiten. Rice wusste, dass sie ihren Vater hasste, und vermutete, dass der General alle möglichen schlimmen Dinge getan und sogar ihre Mutter ermordet hatte. Deshalb wollte er sie für sich zurückgewinnen, indem er eine Geschichte über ihren Vater erfand, in welcher er ihm befahl, verschiedene Verbrechen zu begehen. Falls er wirklich paranoid ist, glaubt er das vielleicht sogar selbst.«
»Ich habe das Jahrbuch von St. Martins überprüft«, erklärte Ami. »Rice hat dort im Jahrgang 1970 seinen Abschluss gemacht, genau wie Vanessa Wingate.«
»Das muss noch nicht bedeuten, dass sie in der Schule ein Liebespaar waren«, wandte French ein. »Ob es nun wahr ist oder nicht, er scheint jedenfalls zu glauben, dass sie seine Geliebte war. Wenn er von Vanessa besessen war, könnte er sie mit dem Kongressabgeordneten Glass gesehen haben und zu dem Schluss gekommen sein, dass die beiden eine Affäre hatten. Er hat sich vielleicht eingeredet, Glass sei ein Rivale, der zwischen ihm und seinem Objekt der Begierde stand. Das könnte seine Depressionen erklären. Vielleicht hat er sich auch eingeredet, Vanessa würde zu ihm zurückkehren, wenn er dieses Hindernis aus dem Weg räumte. Das wäre eine Erklärung, warum er den Kongressabgeordneten ermordete.«